Kino: Tagebuch 2009



 FilmRegisseur KinoNoteKommentar
Januar It's a Free World (OmU) Ken Loach Traumstern 8 Eine fiktive Geschichte, der man in Zeiten von Globalisierung und Finanzkrise sofort glauben würde, wenn sie eine Dokumentation wäre. Aber was tun? Völker, hört die Signale? Konsumenten, kauft gescheit ein? Politiker, handelt mit globaler Verantwortung? Ratlosigkeit macht sich breit...
So finster die Nacht Tomas Alfredson Mal seh'n 8 Könnte ich doch noch einmal naiv wie ein Kind die Welt entdecken, selbst wenn es die Welt eines Vampirs ist! Und nicht nur, weil es auch bei uns minus zehn Grad waren und Schnee lag, schien dieser liebenswerte, blutrünstige Film aus Schweden dem eigenen Leben recht nah zu sein.
Waltz with Bashir Ari Folman Valentin 9 Vielleicht sollte ich über mein Leben nicht nur nachdenken, darüber schreiben und es photographieren, sondern es auch aufzeichnen - im ursprünglichen Sinne des Wortes Zeichnen. Möglicherweise fällt es dann leichter, damit umzugehen, wenn wieder einmal die Realität hereinbricht.
Stammheim Reinhard Hauff Passage 9 Wird es in zehn Jahren einen Film über Guantánamo geben? Und wie schwach ist der Rechtsstaat, wenn ich mich ständig zwingen muß, jedwede Sympathie für Terroristen abzulehnen? wenn es nicht vollkommen sinnlos wäre (und schon wieder denke ich die gedanken jener) würde ich einen antrag stellen diesen film herrn schäuble zwangsvorzuführen.
Februar The Boss of It All Lars von Trier Cinema Quadrat 8 Eine eigenartige, fast schon verrückte Filmästethik mit all ihren Sprüngen und abgeschnittenen Köpfen. Genau so verrückt die Handlung - und doch so realitätsnah: Ab einem gewissen Zeitpunkt wird man die Geister, die man rief, eben nicht mehr los...
Pelle der Eroberer Bille August Caligari 8 Abschied von der Heimat.
Abschied von den Träumen.
Abschied von der Hoffnung.
Abschied.
Für immer.
Hoffnung.
O' Horten (OmU) Bent Hamer Mal seh'n 7 Die kleinen Skurilitäten des Alltags: Man kann sie wie einen Zug in einer weißen Winterlandschaft an sich vorbeiziehen lassen - oder man nimmt sie wahr und sieht in ihnen eine Quelle der Lebensfreude.
Die Reise des chinesischen Trommlers Kenneth Bi Passage 9 Der Weg zum Moment, in dem man erkennt, wer man ist - oder: Der wahre Gegner sind nicht die anderen, sondern man selbst.
Pazar - Der Markt (OmU) Ben Hopkins Caligari 8 Leben und Überleben in einer vom Handeln geprägten Kultur, vor der auch die Globalisierung nicht haltmacht. Und tatsächlich: Es gibt eine elf Kilometer lange Grenze zwischen der Türkei und Aserbaidschan.
Let's Make Money (OmU) Erwin Wagenhofer 5 Die Reichen plündern die Welt, die Politik macht nichts, und wir, die Opfer, können nichts machen? Kein Wort über Fair Trade, kein Gedanke an die Verantwortung der Konsumenten und damit jedes einzelnen, stattdessen linkspopulistische Propaganda im Dienste Attacs. Es ist eine Beleidigung der Armen und im Elend Lebenden in den Entwicklungsländern, sich mit ihnen auf eine Stufe der Unterdrückung zu stellen. Wie lange kann sich die Welt diese Ignoranz und Arroganz noch leisten?
März Das große Geschäft (OmU) César Charlone, Enrique Fernández Filmforum 8 So schlecht war die Geschäftsidee des Toilettenhäuschens dann doch nicht: Man bleibt zumindest nicht auf Bergen von Essen sitzen - und hat außerdem ein Örtchen, um neue Ideen zu finden.
Der unsichtbare Dritte (OmU) Alfred Hitchcock Caligari 8 Hinterher fragt man sich immer, wieso man nicht selbst darauf gekommen ist, wer was warum gemacht hat - aber wüßte man es, wäre es auch kein spannender Agententhriller mehr. Immerhin hat man von den drei Schüssen mit Platzpatronen den ersten als solchen gleich erkannt...
Der Knochenmann Wolfgang Murnberger Passage 8 Brenner alias Josef Hader als die perfekte Personifizierung des Lakonischen, dazu ein gehörige Portion Wiener Schmäh und ein Hauch von Fargo über der Knochenmühle im Keller.
Die Klasse (OmU) Laurent Cantet Filmforum 9 Wenn selbst ein Lehrer, der vieles anders als vom Schulsystem vorgesehen (und damit richtig) macht, am Ende scheitert, weil er in einem entscheidenden Moment einen eigenen Fehler nicht eingestehen konnte, dann könnte man die Hoffnung verlieren - andererseits wo gibt es schon perfekte zwischenmenschliche Beziehungen? Großartige Dokumentarfiktion, sozusagen Riminis Experten des Alltags für die Kinoleinwand.
Zeugin der Anklage Billy Wilder Filmmuseum 9 Ein so spannendes Ende, daß man meinen könnte, es stamme von Hitchcock; so unerwartet, daß wohl niemand in der Lage ist, es vorherzusehen. Schade nur, daß beim nächsten Mal die Spannung fehlen wird - und dennoch kein Grund, darauf zu verzichten, den Film und Marlene eines Tages wieder zu sehen.
Hamlet Svend Gade, Heinz Schall Caligari 10 Dem an Tragödien schon reichen Drama wurde eine weitere, eine letzte hinzugefügt: Eine unmögliche Liebe, eine verdrängte Liebe, eine erst im Tod erkannte und bekannte Liebe. Nicht nur wegen des hervorragenden Musikensembles wähnte man sich bei diesem Stummfilm in der Oper. Was hätte Wagner dazu gesagt?
April Silentium Wolfgang Murnberger Filmforum 8 Es ist etwas faul im Staate Salzburg. Nicht nur mit Leberkäs und Knackwürsten, sondern vor allem mit den Kultur- und Gesellschaftsbonzen. Daß ein Christoph Schlingensief selbstironisch genug ist und (s)eine Rolle übernimmt, verstärkt noch diese Aussage. Wieviel Mut erforderte es, in der selbsternannten Kulturgroßmacht Österreich das Buch und diesen Film zu veröffentlichen?
Gran Torino Clint Eastwood Passage 9 Wie büß' ich Sünder meine Schuld? Selbst wenn zwischen der Frage und ihrer Beantwortung einige zu schnell sich vollziehende Persönlichkeitsänderungen und etwas zu viel amerikanisches Pathos lagen, ist, nach fünfzig Jahren aus Mitleid wissend geworden, die gegebene Antwort bewegend: Erlösung dem Erlöser!
Zeit des Kometen (OmeU) Fatmir Koçi goEast, Alpha 7 Eine Parodie über die zahlreichen Gründe zu meinen, in den Krieg ziehen zu müssen. Um nur einen Gedanken hervorzuheben: Lerne erst einmal Deinen Nachbarn kennen, bevor Du ihn bekämpfst. Wo sonst als auf dem Balkan könnte dies glaubhafter vermittelt werden? Und wer weiß schon, welch hohen Stellenwert die religiöse Toleranz in Albanien genießt?
Buick Riviera (OmU) Goran Rusinovic goEast, Caligari 8 Wie verbittert muß man sein, wie schlimm muß das im Krieg Erlebte gewesen sein, wenn man das einzig Identitätsstiftende preisgibt, um mit ihm als Waffe aus Rache einen Menschen zu töten?
Aljosa (OmeU) Meelis Muhu goEast, Kulturpalast 9 Am zweiten Jahrestag der Kämpfe um den Pronkssõdur und wenige Stunden nach dem Besuch des kriegsverherrlichenden Niederwalddenkmals war es bei aller Sympathie für die eine (estnische) und allen Vorurteilen gegenüber der anderen (russischen) Seite wahrlich nicht einfach, sich eine unvoreingenommene Meinung zu bilden. Was dennoch mit einiger Objektivtät festgestellt werden kann, ist, daß es nicht verwundert, wenn nach jahrzehntelanger sowjetischer Heldenverehrung aus Totengedenken Nationalismus entsteht. Wenigstens scheint der jetzt gefundene Kompromiß für beide Seiten akzeptabel zu sein.
Das Spielfeld der Obdachlosen (OmeU) Kasia Adamik goEast, Alpha 8 Der erste Fußballfilm nach dem (offiziellen) Ende der persönlichen Interesse-am-Sport-Ära. Schon irgendwie seltsam... Aber davon abgesehen standen die Menschen im Vordergrund, an deren Schicksal der Zuschauer teilhaben konnte und für die man hofft, daß es nicht nur bei dem einen glücklichen Ende bleiben möge. Und beim nächsten Aufenthalt in einer U-Bahn-Station bitte ein klein wenig mehr Bewußtsein.
Das glücklichste Mädchen der Welt (OmeU) Radu Jude goEast, Filmmuseum 8 Glücklich sein wollen.
Glücklich sein dürfen.
Glücklich sein müssen.

Nicht glücklich sein können.
Mai Die wundersame Welt der Waschkraft (OmU) Hans-Christian Schmid Mal seh'n 8 goEast geht weiter: Zu Besuch in Polen. Doch wie sich verhalten, wie reagieren? Boykottieren? Konsumieren? Investieren? Spenden? Kiva? Reisen in die Zivilgesellschaft? Es ist eine Wiederholung: Mehr Bewußtsein! Jeden Tag. Auch darüber, daß es überall Menschen unterhalb eines Durchschnitts gibt.
Oberhausen on Tour 2009: Best of German and International Competition (OmeU) Hannaleena Hauru, Daniel Höpfner, Pavel Medvedev, Radu Jude, Nguyen Ha Phong Caligari 7 Finnischer Wald, Berliner Bahnhof, russische Einöde, rumänische Großstadt, vietnamesische Terrasse - so vielfältig ist die Welt des Kurzfilms. Selbst wenn man nicht immer die Handlung als solche erkennen oder sie verstehen kann, ist dieses Genre es wert, in Zukunft mehr beachtet zu werden. Daß im übrigen die Beiträge aus dem Norden und dem Südosten Europas am besten gefielen, war zweifelsfrei eine Folge der persönlichen Präferenzen...
Juni Serengeti darf nicht sterben Bernhard Grzimek Filmmuseum 9 Was ist es, was diese fünfzig Jahre alte Dokumentation von manch modernem Naturfilm so wohltuend unterscheidet? Es ist vor allem das Herzblut, mit dem Vater und Sohn Grzimek diesen Film gedreht haben und wovon kein Zuschauer unbeeindruckt bleibt. Leidenschaft statt Technik!
August Lemon Tree Eran Riklis OAK Seeheim-Jugenheim 7 Warum fällt es bloß so schwer, über die einseitige Sichtweise des Films hinwegzusehen und eine (Teil-)Schuld Israels im Nahostkonflikt anzuerkennen?
November Louise Hires a Contract Killer Gustave de Kervern, Benoît Delépine Passage 6 War bei Aaltra wenigstens noch Finnland das Ziel der Reise, waren es hier derer gleich drei - und spätestens beim dritten hoffte man, es möge auch das letzte sein.
Die Anwälte - Eine deutsche Geschichte Birgit Schulz Mal seh'n 8 Eine lange Reservierungsliste im ausverkauften Mal seh'n - hätte man sich in Frankfurt ja auch denken können. Was den Film angeht, hätte man bei aller Unerträglichkeit gern mehr rechte "Argumente" gehört, um zu verstehen, warum ein eigentlich intelligenter Mann wie Mahler es auf sich nimmt, für etwas, was er immer wieder sagt, sechs Jahre lang in den Knast zu gehen. Und bezüglich Ströbele und Schily weiß ich, warum ich grün und nicht rot wähle.
Dezember Muukalainen Jukka-Pekka Valkeapää 9 ... und heute waren die anderen 79 Sessel leer. Was war bloß das Faszinierende an diesem in Finnland spielenden, in Estland gedrehten und an Rußland erinnernden Film, in dem fast nichts gesagt wurde, in dem fast nichts geschah und bei dem man am Ende fast nicht mehr wußte als am Anfang? Eine neuartige Seh- und Hörerfahrung jenseits aller handlungsorientierten Gewohnheiten, wie man sie bisher nur von Kurzfilmen kannte und bei der selbst das Knarzen des Holzgebälks im Kino nicht fehlen durfte.
Stille Hochzeit - Zum Teufel mit Stalin Horatiu Malaele Traumstern 8 ... auf einmal findet man sogar Gefallen an poetischen Filmen: An der Farbenfreude des Lebens etwa, oder an der Befremdlichkeit der erzwungenen Stille. Selbst im Schrecken des Terros findet sich ein Hauch Poesie wieder - im harten Kontrast zur alles leicht nehmenden Ignoranz der nachgeborenen Generation.
Tagebuch einer Verlorenen Georg Wilhelm Pabst Caligari 8 "Ein wenig mehr Liebe, und niemand kann mehr verloren sein auf dieser Welt." Gibt es dem noch etwas hinzuzufügen?
Der dritte Mann Carol Reed Filmforum 9 Die dunklen, menschenverlassenen Gassen des einst gevierteilten Wiens, eingefangen in großartigen Schwarz-Weiß-Bildern und untermalt mit einer legendär gewordenen Zithermusik: Ein Meisterwerk des Atmosphärischen und der Spannung!
The Man from London (OmU) Béla Tarr, Agnes Hranitzky 7 Daß der Film eine einschläfernde Wirkung hatte, war sicherlich den -15 Grad Außentemperatur zu verdanken; ansonsten müßte man es als ein Qualitätsmerkmal des Films interpretieren. Bloß: Warum mußte diese Schwarz-Weiß-Bild-Klang-Collage überhaupt eine Handlung besitzen?
Psycho Alfred Hitchcock Karlstorkino 8 In der Tat war Hitchcock die Spannung wichtiger als die Logik der Handlung, aber immerhin war die Auflösung schlüssig und ein Musterbeispiel für die Erklärung von Schizophrenie. Wie dem Raunen des Publikums zu entnehmen war, stahl die Filmkopie dem Zuschauer eine wohl sehr bedeutende Filmszene - ein Grund also, Psycho sich in einigen Jahren noch einmal anzusehen.
Übrigens: Der vierte Schwarz-Weiß-Film in Folge.
Soul Kitchen Fatih Akin Traumstern 9 Ein bandscheibengeschädigter Lebenskünstler, ein Bleibtreu als Knasti und ein an Vuk erinnerndes, verkanntes Küchengenie sowie jede Menge weiterer schräger Typen - und zu all dem noch drei Frauen, bei denen sich nicht nur die Protagonisten nicht entscheiden konnten. Ein gelungener Jahresabschluß!


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